Verlassen in Irland – Fotografie & Blog

18/05/2020

Fotos © Sylvia & John Payne, Hartmut Wallburg

Als ich vor ein paar Wochen anfing diesen Artikel zu schreiben, wusste ich nicht, dass Irlands Sehenswürdigkeiten im wahrsten Sinne des Wortes verlassen sein würden.  Bei der Wahl des Titels hatte ich keineswegs eine Pandemie im Sinn. Vielmehr sollte es um Orte gehen, die für immer verlassen sind. Verwaist und zerfallen. Geheimnisvolle Hüllen einstig glanzvoller Gebäude. Ruinen. Mauerreste.

Trotz der Ausnahmesituation, in der nun alle touristischen Attraktionen auf der Insel wie ausgestorben sind, soll es nach wie vor um meine Lieblingsruinen gehen. Es ist eine Katastrophe, dass die Tourismusindustrie zum Erliegen gekommen ist. Dabei hätte doch ein kleiner Dämpfer ausgereicht. Ich denke profitgierige Hotels und Anbieter von Dumping-(P)Reisen haben ihre Lektion gelernt.

WHAT'S THE STORY?

Ich mag Altes. Mein Mann sagt, das sei der Grund, warum ich ihn geheiratet habe. Obwohl er damit nicht ganz Unrecht hat, hatte ich dabei eher alte Gebäude im Sinn. Was alt ist, hat eine Geschichte. Und die ist es, die mich interessiert. Von einem verlassenen Ort geht eine ganz eigene Energie aus. (Von meinem Mann auch, aber der bleibt hier außen vor.) Ich mag es mir vorzustellen, wie ein Ort ausgesehen haben könnte, bevor er zur Ruine wurde. Wie lange liegt er wohl schon so da? Unter welchen Umständen wurde er verlassen? Und dann sind meiner Fantasie keine Grenzen gesetzt.

GRUNDSTEIN GELEGT

Als Kinder besuchten meine Schwester und ich mit meinen Eltern zahlreiche antike Stätten, vornehmlich in der Türkei und in Griechenland. Einige davon wahre Touristenmagneten. Andere wiederum hatten kaum eine touristische Infrastruktur und waren nahezu menschenleer. Trotz ihrer historischen Bedeutung lagen sie unbeachtet und verlassen da. Auf mich hatten diese einen besonderen Reiz. Schließlich machte sie ihre geringere Popularität nicht weniger interessant. Damit legten meine Eltern und insbesondere mein Papa den Grundstein für mein Interesse an verlassenen Orten.

KINDLICHE FANTASIE

Angefeuert von meiner kindlichen Fantasie und Büchern, malte ich mir Szenarien aus wie diese Ausgrabungsstätten wohl in ihrer vollen Blüte ausgesehen haben mögen. Ich stellte mir vor, wie die Menschen vor tausenden von Jahre den gleichen Boden beschritten wie ich jetzt. Wie die Sonne auf ihrer Haut brannte und sie genauso die Zikaden zirpen hörten. Spielte es dafür eine Rolle, ob ich mir sie in ihren historisch korrekten Gewändern vorstellte? Für mich nicht. Woran ich mich erinnere, ist ein Gefühl. Keine geschichtlichen Fakten, die man jederzeit irgendwo nachschlagen kann.

WENIGER IST MEHR

Manchmal bevorzuge ich es, mir ein eigenes Bild zu machen als die Geschichte eines Ortes in einem Museum auf dem Silbertablett serviert zu bekommen. Rekonstruktionen und Ausstellungen können informativ sein, aber kurbeln nur selten meine Fantasie an. Verlassene Orte sprechen für sich, auch wenn nicht jeder Besucher die gleiche Geschichte 'hört'. In Irland gibt es viele Sehenswürdigkeiten, die es trotz großer Besucherzahlen schaffen, ihre Atmosphäre zu bewahren. "Touristenfallen" hingegen, haben weder eine Atmosphäre noch wollen sie lediglich den Besucher informieren.

NACHHALTIG

So wie grasende Schafe in saftigem Grün, gehören auch Ruinen zu Irlands Landschaftsbild. Manch einer kann es kaum fassen, dass die hier einfach so herumstehen. Ganz ohne Eintritt oder Souvenirladen. Vermarkten kann man fast alles, aber wirklich nachhaltig ist das nicht. Manchmal reichen, wie ich finde, ein Wegweiser und ein Toilettenhäuschen aus. Alle Fotos in diesem Artikel sind an verlassenen Orten entstanden. Einige davon haben keine touristische Infrastruktur, was sie in meinen Augen sogar attraktiver macht. Meine Vorstellungskraft kann sich besser entfalten, wenn nicht jede Minute ein neuer Reisebus 'ausgekippt' wird.

 

FLUCH...

Vor nicht allzu langer Zeit war ich selber im Tourismus tätig und habe dazu beigetragen, tausende von Touristen pro Jahr in großen Gruppen nach Irland zu bringen. Schon bevor ich als Vollzeit-Mama zu Hause blieb, habe ich mich mit der Massenvermarktung im irischen Tourismus nicht mehr so richtig wohlgefühlt. Auf der einen Seite setzten mich die Kunden unter Druck, um Dumpingpreise herauszuschlagen. Auf der anderen Seite standen die irischen Leistungsträger, die mit dem erneuten Wirtschaftsboom plötzlich der Bustouristen überdrüssig geworden waren. Oder schlichtweg an die Grenzen ihrer Kapazitäten stießen.

...& SEGEN

Richtig angestellt ist Tourismus eine wichtige Einnahmequelle, insbesondere in weniger favorisierten Regionen des Landes. Aber ich habe das Gefühl, dass Irland das Konzept von Nachhaltigkeit und moderatem Wachstum missachtet. Stattdessen gilt der Grundsatz "Je mehr und schneller, desto besser". Besucherzentren, die in Hoch-Zeiten wie Pilze aus dem Boden schießen, sollten nicht die ursprüngliche (meist natürliche) Attraktion überlagern. Viele kommen nach Irland, weil sie die Ursprünglichkeit schätzen. Unberührte Natur und Authentizität. Attribute, die mit dem Massentourismus verschwinden. Sind sie einmal zerstört, ist der Schaden irreversibel.

DILEMMA

Ich sollte mich freuen, dass sich der Massentourismus auf eine Handvoll von Sehenswürdigkeiten beschränkt, die in jeder Reisebroschüre beworben wird. Keine Frage, auch ich wollte genau diese zuerst sehen, als ich Irland das erste Mal besuchte. Nach ein paar Jahren, die ich nun hier lebe, fühle ich mich nahezu verpflichtet, stattdessen ein paar Insider Tipps zu teilen. Es ist ein Dilemma - einerseits möchte ich, dass meine verlassenen Lieblingsplätze 'verlassen' bleiben. Andererseits sind sie zu schön um nicht gesehen zu werden. Zum Glück liegt es nicht in meiner Macht weder das eine noch das andere zu bewirken.

WÄNDE SPRECHEN

Die Ruinen in meinem Artikel habe ich zufällig entdeckt. Ich bin nicht aufgrund von Empfehlungen oder einem Reiseführer auf sie gestoßen. Dementsprechend hatte ich den Überraschungs-WOW-Effekt auf meiner Seite. Völlig unvoreingenommen konnte ich mich meinen Gedanken über die mögliche Geschichte es Ortes widmen, möge sie wahr sein oder nicht. Ganz ohne Nachbauten, die der Fantasie auf die Sprünge helfen. Einfach nur Steine, wie sie einst von ihren Erbauern errichtet wurden. Authentischer geht es kaum. Doch was macht einige Ruinen Irlands populärer als andere? Eine Frage, die ich mir bislang noch nicht beantworten konnte.

FRIEDHÖFE

(Alte) Friedhöfe haben mich schon immer besonders fasziniert. Die keltischen Hochkreuze machen sie in Irland regelrecht zu einer Sehenswürdigkeit. Berühmte Beispiele sind Glasnevin, Monasterboice, Rock of Cashel und Clonmacnoise (letztere beinhalten einen ganzen Gebäudekomplex). Trotz hoher Besucherzahlen ist es ihnen gelungen, die Würde und den Ursprung der Stätte zu bewahren. Zwei weniger bekannte Friedhöfe, die mich mindestens genauso beeindruckt haben, sind der Hill of Slane, Co. Meath und  The Old Burial Ground in Delgany, Co. Wicklow.

HILL OF SLANE

Der Hill of Slane war eine echte Überraschung. Auf einem grünen Hügel tat sich vor uns auf einmal ein großes Areal historischer Ruinen nebst einem Friedhof auf. Unmittelbar daneben grasten ein paar Kühe. Diese und ein freundlicher Herr in Gummistiefeln waren die einzigen Lebewesen, denen wir dort begegneten. Offensichtlich war keiner von beiden, so wie wir, an den beeindruckenden Mauerresten und Grabstätten interessiert. Eine Sehenswürdigkeit, wie ganz selbstverständlich, in das Alltägliche integriert und somit wirklich typisch irisch.

DELGANY

Von einer geschäftigen Straße aus betraten wir durch ein Mauerloch den Old Burial Ground in Delgany. Wie einen geheimen Garten, würde ich seine Atmosphäre beschreiben. Statt gestochener Rasenkanten und geharkte Wege erwarteten uns hochgewachsenes Gras und Wildblumen. Als einzige Besucher sahen wir uns in aller Ruhe um. Die halb verwitterten, schwer leserlichen Grabsteine gingen bis 1700 zurück. Eine Bank unter einem riesigen Baum spendete Schatten und lud regelrecht zum Verweilen ein. Kann man sich einen schöneren Ort der Stille für die Verstorbenen und Besucher vorstellen?

BALTINGLASS

Klöster sind für mich der Klassiker unter den Ruinen. Wie Friedhöfe sind sie Orte der Ruhe und inneren Einkehr. Für mich haben sie sogar etwas majestätisches. Irland ist voll davon und selbst als Ruinen verlieren sie ihre Aura nicht. Mit meinen Eltern im Schlepptau fuhren wir an einem regnerischen Tag in Richtung Baltinglass Abbey. Wir hatten uns zu fünft in unseren Kleinwagen gequetscht. Die Panoramaroute durch die Berge dauerte doch länger als erwartet. Bei der Ankunft waren wir leicht genervt und vor allem hungrig. Sicherlich ein Grund dafür, dass sich mir die Schönheit des ehemaligen Zisterzienserklosters  nicht auf den ersten Blick erschloss. Bei näherem Betrachten und noch später auf den Fotos taten sich jedoch wunderschöne Details auf. Mit seinen verzierten Steinen ist die Abtei aus dem 12. Jahrhundert eines der schönsten Beispiele romanischer Architektur in Irland. Und keine Menschenseele da, um sie zu bewundern.

LUST AUF RUINE?

Wann immer mir nach dem Besuch einer Ruine zumute ist, brauche ich nur den Fuß vor die Tür zu setzen und stehe schon fast vor dem Kindlestown Castle. Nicht selten spielen wir mit unseren Kindern auf der Wiese davor Ball oder beobachten den Sonnenuntergang. Schnell vergisst man dabei, dass es sich um ein historisches Gebäude aus dem 9. Jahrhundert handelt. Als Nationales Denkmal ist es Teil des Delgany Heritage Trail. Ebenfalls bei uns in der Nähe, im schönen County Wicklow, befindet sich Belmont Demesne. Als Teil eines Waldareals mit herrlichen Wanderwegen und Ausblicken befindet sich dort die Ruine des gleichnamigen Hauses. Sie ist eher unspektakulär anzusehen. Bereits halb von der Natur zurückerobert, scheint sie und ihre Umgebung allerdings Eindruck auf diverse Filmproduzenten gemacht zu haben. Unter anderem wurde hier King Arthur gedreht, wonach nun das angeschlossene Café benannt ist.

BUCH TIPP

Zu guter letzt möchte ich passend zum Thema noch ein Buch empfehlen. Geschrieben hat es Tarquin Blake. Mein Mann schenkte es mir mit folgenden Worten in den Einband geschrieben: „To my beautiful wife. On her first birthday as my wife. One day we will build a home of our own. Your husband.“ (Anm. d. Red.: Nur 3 Wochen später haben wir unser Zuhause gefunden.) Diese rührenden Worte haben mich zum Nachdenken angeregt. Die Ruinen, die der Autor in seinem Buch Abandoned Mansions of Ireland beschreibt, nannte tatsächlich einmal jemand sein Zuhause. Seine großartigen Fotografien zeigen, wie die Natur die nun verlassenen Herrenhäuser langsam wieder für sich einnimmt. Und natürlich hat jedes Gemäuer seine eigene Geschichte. Bevor ich sie lese, lasse ich jedoch auch hier zunächst die Bilder auf mich wirken und tauche ein in meine Fantasiewelt aus eigenen Geschichten, wie ich es schon als Kind getan habe.

 

 

Kleine Bilder, von links nach rechts, horizontal: Glen of the Downs (Co. Wicklow); Baltinglass Abbey (Co. Wicklow), Belmont Demesne (Co. Wicklow); Hill of Slane (Co. Meath); Cathedral of St. Peter & St. Paul, Glendalough (Co. Wicklow),  Monasterboice (Co. Louth); Selskar Abbey (Co. Wexford); Cathedral of St. Peter & St. Paul, Glendalough (Co. Wicklow), Famine Wall, Ballina (Co. Mayo); Old Burial Ground, Delgany (Co. Wicklow); Hill of Slane (Co. Meath); Old Burial Ground, Delgany (Co. Wicklow); Baltinglass Abbey (Co. Wicklow); Kindlestown Castle (Co. Wicklow)

Bildrechte © Sylvia & John Payne, Hartmut Wallburg

 

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